OFFENER BRIEF
an die Landesregierung und Kommunale Spitzenverbände in Schleswig-Holstein zum Flüchtlingsgipfel am 16. Februar 2023
Wir sind besorgt!
Allenthalben gefallen sich einige Vertreter*innen der EU- und Bundespolitik darin, über das Martyrium der Menschen in repressiven Staaten wie Iran oder Russland, in den Erdbeben-geschüttelten Gebieten der Türkei und Syriens oder über die Kriegsgewalt innerhalb und außerhalb Europas öffentlich demonstratives Bedauern zu äußern.
Gleichzeitig verbreiten Teile der Politik aktuell einen Alarmismus, der Schutz und Überleben suchende Menschen – insbesondere aus Drittstaaten – als Belastung abstempelt, regelmäßig gesellschaftliche Überforderung behauptet und der Öffentlichkeit unrealisierbare Rückführungsoffensiven verspricht.
Vor diesem Hintergrund begrüßt der Flüchtlingsrat Schleswig-Holstein den für den 16. Februar zwischen Bund, Ländern und Kommunen geplanten Flüchtlingsgipfel als eine Gelegenheit, eingedenk offenkundiger zuwanderungspolitischer Bedarfslagen zu Augenmaß und flüchtlingspolitischer Vernunft zurückzukehren.
Denn wir brauchen Zuwanderung. Wir schaffen das. Wir haben Platz.Die unterzeichnenden Organisationen rufen die Landesregierung Schleswig-Holstein und die Kommunalen Spitzenverbände dazu auf, beim Flüchtlingsgipfel für eine nachhaltige, vom Prinzip der Gleichbehandlung und von Empathie gegenüber den Schutzsuchenden gekennzeichnete Aufnahme- und Integrationspolitik einzutreten.
Deutschland ist ein Einwanderungsland. Doch Geflüchtete müssen monatelang auf Behördentermine und -bescheide warten. Solange bekommen sie z.B. keine Aufenthaltserlaubnis, keine Verlängerung der Arbeitserlaubnis, keine Verlängerung der Duldung. Aufgrund der Wartezeiten gehen – auch zulasten der Wirtschaft – Jobs und Ausbildungsplätze verloren oder Mietverträge platzen. In der Folge werden auch so ambitionierte politische Vorhaben, wie die Einbürgerungsoffensive oder die Fachkräfteeinwanderung zur Makulatur. Wir appellieren an den Flüchtlingsgipfel, die Voraussetzungen für eine Perspektiven schaffende, von Gleichbehandlung und Chancengerechtigkeit gekennzeichnete Politik und ausländerbehördliche Verwaltungspraxis[1] zu schaffen. Erste Schritte zu diesem Ziel sind:
– Gewährleistung des regelmäßigen analogen und digitalen Zugangs zu Ausländerbehörden
– Abschaffung des Asylbewerberleistungsgesetzes
-Umwandlung des Stichtags-belasteten und befristeten Chancen-Aufenthaltsrechts zu einer regelmäßigen gesetzlichen Bleiberechtsregelung für alle
-Abschaffung ausländeramtlicher Beschäftigungserlaubnisse
-Regelförderung für migrationsspezifische Integrationsnetzwerke
-Regelförderung für behördenunabhängige Verfahrens- und Rechtsberatung für Geflüchtete
Ehrenamtlich engagierte Bürgerinnen und Bürger sind regelmäßig diejenigen, die eine fehlgeleitete Flüchtlingspolitik kompensieren müssen. Ein Abbau bürokratischer Hürden würde auch dazu führen, dass wieder mehr bürgerschaftlich engagierte Menschen sich die Unterstützung von Schutzsuchenden zumuten würden.
Bei der Unterbringung rufen wir zur Abkehr vom Verwaltungsprinzip „warm-sauber-trocken“ auf und fordern die Gewährleistung von Wohnbedingungen, die für Krieg, Verfolgung und anderen Überlebensnöten entkommene Frauen, Männer und Kinder ein integrationsfreundliches und angstfreies Lebensumfeld schaffen. Zielführend dazu wären:
-die Abschaffung der Wohnverpflichtung[2]
-ein Verteilungssystem, das die Bedürfnisse von Schutzsuchenden und die Ressourcen in den jeweiligen Kommunen besser berücksichtigt[3]
-die regelmäßige Unterbringung in privaten Wohnungen, anstatt Gemeinschaftsunterkünften
-die konsequente Umsetzung von Schutzkonzepten für Frauen, Mädchen und andere vulnerable Gruppen unter den Geflüchteten rund um die Uhr
-lückenlose digitale Versorgung mit WLAN und Endgeräten in Gemeinschaftsunterkünften
Anstatt in den Chor nationaler und europäischer Abschottungs- und Externalisierungspolitik einzustimmen, fordern wir die Landesregierung auf, von Bund und den Ländern eine proaktive, dem grundrechtlichen Schutzversprechen gerecht werdende Aufnahme- und Bleibepolitik sowie Außenamtspraxis einzufordern. Zielführende Instrumente auf diesem Wege wären z.B.:
-erleichterte Visavergaben für Verfolgte aus Afghanistan, dem Iran und der Türkei
-Beschleunigung der Visaerteilung beim Familiennachzug
-Angehörigen-Aufnahmeprogramme für Erdbebenopfer aus der Türkei und Syrien anstatt nur kurzfristiger Besuchsmöglichkeiten
-Landesaufnahmeprogramme für Frauen aus Afghanistan
-ein Türkei-Abschiebungsstopp
-Asyl für alle Deserteure
-Abschiebungsschutz für Familien, Kranke und Traumatisierte
-die Abschaffung der Abschiebungshaft
Neben der Aufnahme von Geflüchteten aus Kriegs- und Krisengebieten stehen Bundes- und Länderregierungen, Kommunen und die Gesellschaft in Deutschland vor der Herausforderung, dem Bedarf an Einwanderung gerecht zu werden, hierfür die strukturellen Voraussetzungen zu schaffen und aus den Fehlern der Vergangenheit zu lernen.
Unterzeichnende
-Antidiskriminierungsverband Schleswig-Holstein e.V., www.advsh.de
-Flüchtlingsrat Schleswig-Holstein e.V. www.frsh.de
-lifeline – Vormundschaftsverein für unbegleitete minderjährige Geflüchtete in Schleswig-Holstein e.V. www.lifeline-frsh.de
-SEEBRÜCKEN Schleswig-Holstein schleswig-holstein(at)seebruecke.org
-ZBBS – Zentrale Bildungs- und Beratungsstelle für Migrant*innen in Schleswig-Holstein e.V. www.zbbs-sh.de
Kontakt: Martin Link, Flüchtlingsrat SH, T. 0431-5568 5640, public@frsh.de
[1] Auch PRO ASYL hat zum Flüchtlingsgipfel einen Katalog möglicher Maßnahmen zur Verbesserung der Lage in den Ausländerverwaltungen vorgelegt.
[2] Gemäß §49 Abs. 2 AsylG können Geflüchtete von der Wohnpflicht in Erstaufnahmeeinrichtungen befreit werden; Berlin hat am 26.1.2023 mit der allgemeinen Aufhebung der Wohnpflicht den ersten Schritt in die richtige Richtung gemacht.
[3] Dafür hat z.B. die Stiftung Universität Hildesheim verwaltungsaffine Vorschläge vorgelegt: https://matchin-projekt.de/